Oberliga: Seltsame Anomalien im Bremer Umland

Union 1 versucht das scheinbar Unmögliche bei Ligafavorit Kirchweyhe 2

Bundesliga-Stimmung

Am Sonntag, den 14. April stand die schwerste Aufgabe der „Ersten“ in der laufenden Saison an. Gegen die zweite Mannschaft des Schachklubs Kirchweyhe, welche bisher lediglich ein Unentschieden gegen Hellern abgab und mit einem Arsenal aus Titelträgern – unter anderem fünf Großmeister an acht Brettern – die Liga in Ehrfurcht versetzte, wollte ein gut eingestimmtes Oldenburger Team für die große Überraschung sorgen.

Im Gegensatz zur genannten Begegnung gegen Hellern war das erlesene Meisterensemble jedoch nicht in die Osnabrücker Peripherie bestellt, sondern konnte zu Hause bequem in bester Turnieratmosphäre aufspielen. Dies hatte insbesondere den Vorteil, dass auch ihr Altmeister, GM Zeitlein, der nur Heimspiele bestreitet, in der Startaufstellung zu finden war.

Die Spielbedingungen waren tatsächlich optimal. Kirchweyhes Schachmäzen Peter Orantek hat nicht nur einen ehemaligen Provinzverein auf Bundesliganiveau erhoben, sondern auch gezeigt, was gute Gastfreundschaft bedeutet. In einem eigens für den Schachbetrieb bereitgestellten, lichtdurchfluteten Neubau wurde an DGT-Brettern Platz genommen. Getränke und Snacks wurden dankenswerterweise kostenlos bereitgestellt.

Der Geldgeber will nach eigenen Angaben nicht nur mit Schach den 1987er Börsencrash, sondern laut dessen Buch „Enzyklopädie der Schach-Urhistorie: Decodiertes Urbuch Schach“ den Code für die wichtigsten Fragen des Universums geknackt haben. Skeptiker seien an dieser Stelle gewarnt; Im Schach sind seltsame Vorfälle weniger weit entfernt als in anderen Feldern. So hat schon der ehemalige FIDE-Präsident Kirsan Ilyumshinov behauptet, von Aliens entführt worden zu sein.

Mit derart starker Schachenergie und überaus potenter Gegnerschaft konfrontiert, galt es, nicht in zu viel Demut zu verfallen, sondern wie im sehr empfehlenswerten Buch „Schach für Tiger“, die Trampelfanten in die Falle zu locken. Nach der Niederlage des vergangenen Spieltags gegen Nordhorn war der Klassenerhalt noch nicht ganz gesichert. Vieles könnte für die Oldenburger von den Ergebnissen der anderen Paarungen beeinflusst werden. Zielrichtung war also zum einen, den Glauben an eine große Überraschung nicht zu verlieren und zum anderen an der ein oder anderen Stelle Brettpunkte anzusammeln, die sich direkt auf die Platzierungen gegenüber Bremen und Hellern auswirken könnten.

Die ersten Punkteausbeuten

Wagner – GM Kovacevic 1/2-1/2

Auf Seiten der Oldenburger konnten die ersten beiden Punkteteilungen gegen nominell über 200 ELO stärkere Gegner erkämpft werden. Dabei ist die Wortwahl vielleicht in Teilen vermessen, denn dies machte einen unbeschwerten Eindruck.

Jan startete als Weißer mit Damenindisch im Anzug sehr solide. In einer sehr geschlossenen Partie baute er sich nach und nach bei beiderseitigen Rochaden im Bird-Stil mit f4 auf und setzte sich gegen die schwarze d5/e6 Bauernstruktur mit Leichtfiguren auf e5 fest. Sein Gegner schob seine Bauern am Damenflügel vor und hatte dort mehr Raum. Nach weiterem d3 und e4 kam es zu einem Spannungsfeld im Zentrum mit mehreren Abtauschmöglichkeiten. Da Schwarz keine gute Möglichkeit hatte, die Spannung aufzulösen und zudem wesentlich mehr Zeit verbraucht hatte, begnügte sich der kroatische Großmeister mit Remis.

FM Vernacki – Heinemann 1/2-1/2

Unser Mr. 100 Prozent spielte auch an seinem vierten Einsatz sehr verheißungsvoll auf. Mit Schwarz baute er sich gegen einen sehr zahmen Englisch-Aufbau mit c5, b6, Lb6, g6, Lg7 auf und kontrollierte beide Diagonalen und das Zentrum. Seine Kontrolle über das Zentralfeld d4 erschien sehr vielversprechend und es schien, als würde er die Kontrolle übernehmen. Im weiteren Spielverlauf kam es aber zu einer Verschachtelung der Partie mit doppeltem Springertausch auf d5 und weißem Doppelbauer auf der d-Linie sowie ungleichfarbigen Läufern. Eine später von Weiß erwirtschafteter Mehrbauern hatte wohl dennoch keinen Einfluss auf die Bewertung der Stellung und nach längeren vergeblichen Manövrierversuchen musste der Titelträger in ein Remis einwilligen.

Erster Rückschlag

GM Zaja – Meessen 1-0

Max hat diese Saison bislang stark überperformed und musste sich zudem immer wieder mit Schwarz beweisen. Dieses mal bekam er es mit dem Kirchweyher Topscorer Zaja zu tun, der mit 6,5 Punkten aus 7 Partien sicher niemand ist, der gerne Gastgeschenke macht.

Der Favorit startete in einem ruhigen Abspiel des Damengambits eher verhalten und es machte nicht den Anschein, dass er nach der Eröffnung den Hauch eines Vorteils nachweisen konnte. Max spielte zwar mit isoliertem Bauern auf d5, aber seine sehr koordinierten Figuren kompensierten dafür nur zu gut. Im späteren Mittelspiel kam es aber dazu, dass Max für einen Moment den Fokus verlor. Sein Gegner nutzte die Situation und gewann nach ein paar Tauschaktionen die Qualität, was sich bei dem ruhigen Charakter der Stellung schnell als entscheidender Umstand herausstellte.

Das Ende der Eiszeit

GM Zeitlein – Müer 0-1

Sebastian sollte nach etlichen Versuchen zum ersten Mal im Leben die Gelegenheit bekommen, einen Großmeister in einer klassischen Partie zu schlagen. Zwar gab es schon mehrere Remisen und einen Sieg gegen 2500er-Kaliber, jedoch stellte sich die Jagd nach der Großmeistertrophäe bislang als unlösbare Mammutaufgabe heraus.

Und zu Beginn der Partie machte es auch allen Anschein, als gäbe es an Brett 2 schnell die eiskalte Dusche. Trotz seiner 77 Jahre spielte der Altmeister dominant auf und bekam – wie sollte es anders sein – mit einer Sideline eine verheißungsvolle positionelle Druckstellung. Schwarz bemerkte, dass seine Stellung kurz davor stand, bereits nach wenigen Zügen paralysiert zu werden. Darum entschied er sich dazu, mit extrem riskanten, praktisch richtigen, aber objektiv schlechten Zügen die Initiative an sich zu reißen. Nach falscher Erwiderung des Gegners kippte das Momentum in seine Richtung. Als er in Vorteil geriet, biss sich Sebastian wie ein Säbelzahntiger fest und ließ den saftigen Punkt nicht wieder los.

Vielleicht wurde sein Spiel auch durch eine unerwartete Bulldoggen-Sichtung beflügelt?!

Eingefleischte Unionfans wissen, dass seine Bulldogge Bubba für viele als Heimspielmaskottchen nicht mehr wegzudenken ist …

Weiß hat nach dem Partiezug … Sd3!? die Gelegenheit, die Dame für drei Figuren zu opfern. Ist dies weise oder gibt es eine bessere Alternative? (*Lösung am Ende des Beitrags)

Die Sechste-Reihe-Formation

GM Genov – Eschholz 1-0

Auch Enno musste in 2023/2024 bereits zuhauf mit den schwarzen Steinen vorlieb nehmen. Allerdings war dies in der aktuellen Oberligasaison ein schwerer Gang.

Bekannt durch seinen gefürchteten Umgang mit e4 (der Verfasser konnte auch schon drei Nullen sammeln) und insbesondere dem geschlossenen Sizilianer, welcher bereits maßgeblich zu seinem überragenden Gewinn der B-Gruppe des Pardubice-Opens von 2011 beigetragen hat, wird es ihm sicher nicht gemundet haben, mit Schwarz zunächst einmal eher abwarten zu müssen, zumal ihm nun auch noch ein gestandener Großmeister gegenüber saß.

Auch wenn Enno zum zwei-Springer-Tango lud, entstand nach den ersten Zügen eher ein Step-für-Step-Tanz mit schwarzen Bauern auf fast allen Feldern der sechsten Reihe. Dennoch hieß dies zunächst nicht, dass dieses Monument bröckelte. Als er einige Zeit später seinen ersten Bauern auf die fünfte Reihe setzte, war seine Stellung durchaus spielbar, wenn auch sehr kompliziert. Erst eine Fehlberechnung führte zum Verlust des h-Bauern und der Wanderung seines Königs in Richtung Zentrum. Genov machte danach als Sprengmeister der abrissreifen Ruine ein Ende.

Unerwartete Möglichkeit

FM Schütte – FM Medak 0-1

Dass Marc gegen Stärkere zu vielem in der Lage ist und nicht nur GM Lev Gutman aus Lingen mehrfach Kopfzerbrechen beschert hat, sollte sich vielleicht schon bis nach Kirchweyhe herumgesprochen haben, denn den anwesenden GM Genov und Zeitlein können als Augenzeugen berichten.
Auch gegen FM Medak hatte Marc ein interessantes Konzept mitgebracht und opferte im c3-Sizilianer schnell einen Bauern für Spiel. Auch wenn das Bauernopfer objektiv nicht ganz korrekt war, sind Widerlegungen nicht immer leicht zu finden und nach der ersten Ungenauigkeit konnte er starken Angriff aufbauen. Eine darauf folgende zweite Ungenauigkeit kippte die Stellung hin zu klarem Gewinn für den Oldenburger, der aber leider nach eigener Aussage zu überrauscht von der spontanen Möglichkeit war und die taktische Kombination verschmähte.
Ausgelassenes Momentum verzeiht selten, darum kam es, dass Schwarz sich nach und nach konsolidierte und paradoxerweise am Ende doch den Mehrbauern verwertete.

Time-Glitch in der Matrix

FM Bredemeier – IM Kügel 1-0

Somit befand sich Oldenburg nach 6 beendeten Partien mit einem Spielstand von 2 zu 4 mit dem Rücken zur Wand. An den letzten noch laufenden Brettern mussten für ein Mannschaftsunentschieden nun Siege eingefahren werden.
Dirk spielte mit Weiß gegen den Ex-Delmenhorster Tobias Kügel, welcher in letzter Zeit viele Turniererfolge vermelden konnte und einer der am härtesten trainierenden Spieler in der Liga ist. Bei diesem Ansatz sollte man meinen, dass der GM-Titel nur noch eine Frage der Zeit ist.

Dirk legte das Spiel wie gewohnt positionell an. Kügel wähle einen der ambitioniertesten Aufbauten gegen Reti, kehrte die Stellung in ein Benoni mit vertauschten Farben und setzte auf Raumvorteil. Dirk stand aber wegen seines Anzugsvorteils und einem erzwungenen Tempoverlust von Schwarz mit e7-e6-e5 keineswegs gefährdet und konnte sich über freieres Spiel freuen als in der geläufigen modernen Benoni-Verteidigung mit Schwarz.

Mit der Zeit drang Dirk mit seinen Figuren über den Damenflügel in die schwarze Stellung ein und gewann einen Bauern bei anhaltender Initiative. Als sich der Oldenburger Sieg konkretisierte, geschah etwas Ungeahntes: In der folgenden Stellung, die völlig aussichtslos für Schwarz war, stellte dieser nicht nur das Ziehen, sondern auch das Aufgeben ein.

Geriet Schwarz in Schockstarre oder brauchte er die Zeit, um die Geschehnisse zu verarbeiten? Oder hoffte er auf Ablenkung durch eine Alienapokalypse? Das weiße Spiel war heute zumindest vom anderen Stern.

Was dann folgte, waren jedenfalls nach und nach eingeworfene, sporadische Züge, damit dir Uhr nicht abläuft, ein falscher Zug mit Zeitzugabe für Weiß und die späte Aufgabe einen Zug bevor das Matt über die schwarze Stellung kam. 40 Minuten kostenloser Stoizismuskurs.

Der letzte Funke

Wittje – GM Palac 0-1

So war es an Bertholt, aus einem wirklich passablen Mannschaftsergebnis ein sehr gutes zu machen. Allerdings war zum Zeitpunkt von Dirks Sieg eines klar: Mit einer Minusqualität im tiefen Endspiel mit Turm gegen Springer und beiderseitigen Bauern konnte er nur noch um das Remis kämpften. Sein Gegner zeigte aber nüchtern, dass er als ehemaliger 2600er das Wort Technik buchstabieren kann. Wie sich die Partie zuvor in diese Richtung entwickelt hat, lässt sich bis bis zur Bekanntgabe der Partien auf https://ergebnisdienst.schachbund.de/bedh.php?liga=olnw
für den Verfasser nicht nachvollziehen.

Es bleibt insgesamt trotz Niederlage ein schöner Ausflug in den Norden des Landkreises Diepholz bei bestem Wetter. Für einige Zeit lag die Überraschung tatsächlich in der Luft. Großes Lob an die Organisation des Gastgebers und auch an den sympathischen Schiedsrichter Christian Jackl, der hier noch nicht erwähnt wurde und den Wettkampf souverän geleitet hat!

Bericht von Sebastian Müer

Dirk kurz vor Ende seiner Partie

*Antwort zur Aufgabe: Die Abgabe der Dame für drei Figuren mit 1 Sxf5 Sxe1 2 Sxe7+ Kh8 3 Lxe4 dxe4 4 Txe1 ist tatsächlich die Partiefortsetzung, führt aber zu klarem schwarzen Vorteil. Weiß ist nicht koordiniert und wird nach -Dd4 und -Te8 Material geben müssen.
Besser ist 1 De3 Lc5 2 S2b3 mit klarem weißem Vorteil. d3 hängt nun, f5 ebenso. Somit ist 2 – Sb4 erzwungen. Schwarz wird mit passiven Figuren gegen gutes weißes Zentralspiel enden.